CORD MEIJERING COMPOSER

"No man ever steps in the same river twice" (Heraclitus)

CORD MEIJERING
cmc_Logo_print_transp_merge_layers_small_edited-1

APEIRON
composed in
1993

duration
approx. 8 min. 37 sec.
1st movement 3 min. 24 sec. - 2nd movement 2 min. 5 sec. - 3rd movement 3 min. 8 sec.

dedicated to
Thomas Löffler

first performance
June 27, 1993
Steinbrennersaal im Kurhaus Baden Baden, Germany
Thomas Löffler- clarinet

publisher
EDITION MEIJERING

program notes (german)
(If for the program a shorter version of the article is requested, please choose the first passage of the following text)

Der materialistische Naturphilosoph Anaximander aus Milet (611-546 v.u.Z.) verfasste als erster Grieche ein philosophisches Prosawerk mit dem Titel "Über dieNatur", von dem jedoch kaum etwas erhalten ist. Man weiß soviel, dass er versucht hat, auf natürliche, den mythologischen Deutungsmöglichkeiten abgewandte Weise die meteorologischen Vorgänge wie Blitz und Donner als ein Ergebnis zusammengepresster, unter starkem Druck stehender Luft zu erklären, und dass er die dialektische Hypothese entwickelte von der Entstehung aller Lebewesen aus dem Feuchten, welches unter Einwirkung der Sonne verdunstet und somit veränderte Lebensformen auf dem Lande hervorbringen kann. Ein zentraler Gedanke in Anaximanders Philosophie geht aus von der Annahme eines Apeirons - dies ist das nie an eine Grenze Kommende, das Unendliche, der ungeformte Urstoff, aus dem alle sich in einem Prozess ständigen Werdens und Vergehens befindlichenDinge und Erscheinungen der unendlichen Welt einschließlich des Himmels durch Trennung der Gegensätze hervorgegangen sind.

Meine Komposition APEIRON für Klarinette allein, die diesen Gedanken ihren ersten Impuls verdankt, nimmt innerhalb meiner übrigen Stücke insofern eine Sonderstellung ein, als sie sich auf eine Philosophie bezieht und nicht - wie sonst -auf poetische Texte, auf Naturvorgänge, auf die musikalische Tradition oder auch auf Werke der bildenden Kunst. Aber auch hier wählte ich mir beim Komponieren ein Gegenüber, gleichsam eine andere Seite der Welt, die mir helfen sollte, meine bis zu diesem Tage entwickelten musikalischen Gedanken erneut in Bewegung zu versetzen. Man hat - was den Erfindungsprozess von Musik betrifft - jedoch zu beachten, dass Philosopheme nicht linear auf die Musik übertragbar sind, dass beide Disziplinen ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten folgen, und dass die Musik immer sinnlich Wahrnehmbares zu ihrem Gegenstand hat. Aber gerade diese schein- bare Unmöglichkeit, zwei verschiedene Denk- und Empfindungsweisen in eine Beziehung zu setzen, erzeugt ein Spannungsfeld, aus dem die Musik wieder einmal verwandelt hervorgehen kann. Dennoch galt es zu überprüfen, woher mein Wunsch rührte, ein Stück ausgehend von diesen Texten zu schreiben, und wie sich eine vielleicht mögliche Beziehung gestalten ließe. Zunächst empfand ich nur das, was man als Initialzündung bezeichnen kann. Beim Lesen der Gedanken Anaximanders erfüllte sich mein Inneres mit einer spannungsvollen Atmosphäre, und ich empfand eine starke Attraktion, oder besser: ein Gebanntsein, ein Erstaunen und den Wunsch, mich diesem auf geheimnisvolle Weise entstandenen inneren Magnetfeld auszusetzen und ihm eine musikalische Gestalt zu verleihen. Aber sei es um diese Emotionen überprüfend abzusichern, oder sei es um sie einer Klärung zuzuführen, die notwendig ist, um die formbildenden Kräfte innerhalb eines Stückes genau auszuloten, versuchte ich, diese Anziehungskraft näher zu untersuchen, ihr auf den musikalischen Grund zu gehen. Ich konnte feststellen, dass Anaximanders Lehrsätze alles andere als sprödes Gedankengerüst sind, dass man ihnen noch heute ein großes Erstaunen über das Mysterium des Universums anmerken kann, und dass sie selbst es waren, die diese Atmosphäre in mir erzeugten, diese Atmosphäre, die sich in ständiger Beweglichkeit, oder genauer gesagt: Bewegtheit darstellte. Es war das Bewegte, das diesen Gedanken um die Entstehung der Welt, um Blitz und Donner, um die verschiedenen Temperaturen, um Sonne und Wasser, so nah an meine musikalischen Vorstellungen heranführte.

Die drei Sätze der Komposition als klanglich objektiviertes Abbild dieses innerenBewegtseins stellen sich entsprechend dem Denken Anaximanders in Gegensätzlichkeiten als kontrastierende musikalische "Aggregatzustände" dar, die sich jedoch - wie man hören wird - nicht als drei in sich einheitliche Blöcke zeigen;vielmehr enthält Leises auch Lautes, Bewegtes auch weniger Bewegtes, nur die Gewichtungen sind jeweils andere. Gleichsam aus dem Nichts herauskommend, lösen sich, in sehr dünner, nebelartiger Atmosphäre beginnend, - zunächst nur in kurzen Augenblicken, schließlich in größerer Verdichtung - bewegtere, auf höherer dynamischer Stufe erklingende Gestaltpartikel, die ihre Energie zunächst nur aus sich selbst heraus zu gewinnen scheinen, im Laufe der Zeit aber auch mehr und mehr aus den bereits entstandenen Gegensätzlichkeiten. Jede musikalische Phrase hat naturgemäß einen Beginn und ein Ende, dennoch ist hier dieses Beginnen und Enden nicht zielgerichtet, die Linien enden nicht, weil ein begrenzter Raum ausgeschritten wird, sondern weil sie ihre auf geheimnisvolle Weise entstandene innere Energie allmählich wieder verlieren und so ihre Bewegung zum Stillstand kommt, bevor neue Impulse - woher sie auch immer gekommen sein mögen und wohin sie auch immer gehen werden - , einem Atmen gleich, ein neues vorübergehendes Fließen erzeugen. Jedes Ende verweist auf einen unendlichen Raum und einen unendlichen Wechsel von Beginnen und Enden. Diesen Gesetzmäßigkeiten eines Werdens und Vergehens unterworfen, verschwindet die Musik - nach größeren Turbulenzen im Mittelsatz - schließlich in sehr dünnen Klangfäden in einem nun anscheinend luftleer gewordenen Raum wieder ins Nichts, aus dem sie gekommen war.